Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat mit Urteil vom 30. März 2023 – L 32 AS 1888/17 –, Rn. 100 – 106, juris, insoweit wie folgt entschieden:
„Wohnraum, der nach den Vorgaben des sozialen Wohnungsbaus und des WoGG angemessen ist, kann jedenfalls in angespannten Wohnungsmärkten nicht grundsicherungsrechtlich unangemessen sein (Senatsurteil vom 02.12 2021, L 32 AS 579/16, juris-RdNr. 89; Rudnik a.a.O. S. 139 f.). Dabei kommt die weitere Überlegung zum Tragen, dass die insofern vorhandenen Daten stets nur bzw. ganz überwiegend auf Bestandswohnungen im jeweiligen Regelungssystem zurückgreifen und im angespannten Wohnungsmarkt die Verteuerung durch das ungünstige Nachfrage-Angebot-Verhältnis nicht aktuell widerspiegeln (Senatsurteil vom 02.12 2021, L 32 AS 579/16, juris-RdNr. 89). Allein, dass die AV-Wohnen in Ziff. 3.2. Abs. 3 bestimmt, dass bei Wohnungen des Sozialen Wohnungsbaus eine Überschreitung der Richtwerte um bis zu 10% zulässig, zweigt zweierlei. Erstens wird der normative Zusammenhang tatsächlich auch gesehen. Zweitens wird klar, dass die Festsetzung der Richtwerte diesen normativen Zusammenhang gerade nicht berücksichtigen, weil man sonst die Ausnahmeregel nicht bräuchte. Schon vom eigenen Normgefüge her erweist sich die AV-Wohnen nicht als schlüssig. Dies gilt selbst für die aktuelle AV-Wohnen vom 13. Dezember 2022 noch immer, wo sich die gleiche Regelung in Ziff. 3.3 Abs. 3 findet.
Nach diesen Maßstäben erweist sich die Bruttokaltmiete der Klägerin im angespannten Wohnungsmarkt von Berlin im Zeitraum 2015/2016 noch als angemessen. Die vom Senat eingeholten Auskünfte der IBB vom 11. November 2022 und die ergänzende Stellungnahme vom 13. Januar 2023 haben ergeben, dass von den Sozialwohnungen in Berlin das Maximum der Nettomiete 8,84 Euro/m2 (WmA) bzw. 12,27 Euro/m2 (WoA), das Maximum der Bruttokaltmiete 10,85 Euro/m2 (WmA) bzw. 14,56 Euro/m2 (WoA) betrug, wobei die preisrechtlich zulässigen Mieten (Soll-Mieten) bei WmA 6,73 Euro/m2 und bei den WoA 13,21 Euro/m2 jeweils im Durchschnitt und nettokalt betrugen. Die IBB hat überzeugend im Hinblick auf das im Bereich des sozialen Wohnungsbaus geltende Prinzip der Kostenmiete und der dafür erforderlichen objektbezogenen Wirtschaftlichkeitsberechnungen darauf hingewiesen, dass statt der teureren kostendeckenden Soll-Miete eine günstigere Ist-Miete verlangt werde und die IBB diese Ist-Mieten-Werte mitgeteilt hat. Die Angaben für die tatsächlichen Ist-Mieten 2015 wurden aus 81.112 WmA mit Mietenangaben und 15.572 WoA mit Mietenangaben ermittelt. Perzentile oder Durchschnitte der oberen 10 % hätten wegen der Datenerhebungen nicht mitgeteilt werden können. Ebenfalls nachvollziehbar hat die IBB auf die Gründe für eine stetige, wenn auch langsamere Steigerung der Mietkosten auch im sozialen Wohnungsbau hingewiesen.
Die Bruttokaltmiete der Klägerin beträgt 551,36 Euro, mithin 6,13 Euro/m2, bezogen auf die 90 m2, berechnet auf eine Standard-Wohnfläche für einen Einpersonenhaushalt im sozialen Wohnungsbau von 50 m2 wären das 11,03 Euro/m2. Berücksichtigt man, dass nach der gesetzgeberischen Intention alle Sozialwohnungen gerade für die Zielgruppe der Hilfebedürftigen errichtet und vorgehalten werden sollen, liegt der Quadratmeterpreis der Wohnung der Klägerin, bezogen auf eine grundsätzlich angemessene Wohnung von 50 m2, deutlich unterhalb des Durchschnitts der (zulässigen) Soll-Mieten von 13,21 Euro/m2 nettokalt (WoA) oder gar der der Obergrenze von 14,56 Euro/m2 für Ist-Mieten von Sozialwohnungen ohne Anschlussförderung liegt. Dabei handelt es sich bei den WmA um den eher älteren Wohnungsbestand, weil seit 1990 ausschließlich Sozialwohnungen ohne Anschlussförderung errichtet wurden (IBB Wohnungsmarktbericht 2019, S. 72). Diese Sozialwohnungen ohne Anschlussförderung machen auch keinen völlig unwesentlichen Bereich des Wohnungsmarktes aus, allein die Erhebungen der IBB betreffen einen Wohnungsbestand der über die für den Mietspiegel 2015 erhobenen Daten hinausgeht. Kann einem hilfebedürftigen Mieter einer Sozialwohnung, die den Vorgaben des sozialen Wohnungsbaus in Berlin entspricht und für die eine Bruttokaltmiete von 14,50 Euro/m2 anfällt, schlecht vorgehalten werden, seine Wohnung sei unangemessen, obwohl sie als angemessene Unterkunft gerade für ihn bereit gestellt wurde, kann der Klägerin mit einer deutlich günstigeren Wohnung Unangemessenheit der Unterkunftskosten nicht entgegengehalten werden. Dabei ist zudem zu berücksichtigen, dass Hilfebedürftigen wegen des gerade für Einpersonenhaushalte in besonderem Maße fehlenden Wohnungsangebots ein Ausweichen auf teurere, weil größere Wohnungen schlecht verwehrt werden kann. Der Grenzwert von 50 m2 für eine angemessene Fläche erweist sich nicht als realistische Grenze im einfachen Marktsegment für Einpersonenhaushalte. Aus dem bereits Ausgeführten ergibt sich, dass eine durchschnittliche Wohnung in Berlin nach ihrer Ausstattung grundsicherungsrechtlich angemessen ist. Die Mehrheit der Haushalte in Berlin sind Einpersonenhaushalte (55 %, IBB Wohnungsmarktbericht 2016, S. 21). Einpersonenhaushalte nutzten 2018 durchschnittlich eine Wohnfläche von 55,2 m2; 2014 war es noch ein Quadratmeter mehr (IBB Wohnungsmarktbericht 2019 S. 79). Dies spricht dafür, dass auch eine Wohnung von 56 m2 im hier streitigen Zeitraum für einen Einpersonenhaushalt nicht zwingend als unangemessen zu betrachten sein dürfte. Dies zugrunde gelegt, wäre bei der Bruttokaltmiete der Klägerin ein Quadratmeterpreis von 9,84 Euro (bezogen auf 56 m2) mit den Mieten der Sozialwohnungen zu vergleichen. Damit liegt die Wohnung der Klägerin deutlich auch unter den Höchstwerten der Ist-Mieten der WmA (10,85 Euro/m2). Soweit die berücksichtigten Werte für 2015 gelten, lässt sich für 2016 nichts Abweichendes feststellen, weil der Wohnungsmarkt und die Preisentwicklung nicht günstiger wurden. Dies ergibt sich insbesondere aus der weiteren Kostensteigerung auch der durchschnittlichen Bruttokaltmieten im sozialen Wohnungsbau, wie auch aus den durch den Mietspiegel 2017 belegten weiteren Mietsteigerungen.
Die Heranziehung der wohngeldrechtlichen Bewertungen führt im Falle der Klägerin zu keiner für diese günstigeren Bestimmung der Angemessenheitsgrenze. Vielmehr hält der Senat einen Rückgriff auf die um den Faktor 1,1 erhöhten Werte der Wohngeldtabelle im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Realitätsgebot für die hier zu beurteilende Situation im Land Berlin 2015/2016 nicht für sachgerecht. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (z.B. Urteil vom 17.12.2009, B 4 AS 50/09 R – Flensburg, RdNr. 27; Urteil vom 30.01.2019, B 14 AS 24/18 R, RdNr. 30 m.w.N.) ist ein Rückgriff auf die Werte des WoGG – zur Festlegung ausschließlich der abstrakt angemessenen Kosten der Unterkunft im Sinne einer Obergrenze – ausnahmsweise dann zulässig, wenn nach den Feststellungen der Tatsacheninstanzen Erkenntnismöglichkeiten und -mittel zur Festlegung der von dem SGB II-Träger zu tragenden angemessenen Aufwendungen der Unterkunft nach einem schlüssigen Konzept nicht mehr vorhanden sind. Dies begründet das BSG damit, dass durch diese „Angemessenheitsobergrenze“ die Finanzierung extrem hoher und per se unangemessener Mieten verhindert werden soll (BSG ebd.). Zwar dürften die Wohngeldberechtigten zur Referenzgruppe bei der Bestimmung der Angemessenheitsgrenze zählen, jedoch erscheint der Rückgriff auf die Werte der Wohngeldtabelle nach § 12 WoGG über die normative Wertung hinaus, dass es sich dabei um angemessene Werte handelt, problematisch. Dies folgt zum einen aus dem für grundsicherungsrechtliche Belange zweifelhaften, weil methodisch unzureichenden Verfahren zur Abklärung des Grundsicherungsbedarfs, der bis 2020 nur sporadischen Anpassung der WoGG-Werte und zum anderen aus der Ableitung der Werte lediglich aus Bestandsmieten.
Die Tabelle des § 12 Abs. 1 WoGG in der Fassung des Gesetzes vom 9. Dezember 2010 (BGBl I 2010, 1885; gültig vom 1. Januar 2011 bis 31. Dezember 2015) i.V.m. § 38 Nr. 2 WoGG i.V.m. der Anlage (in der Fassung des Gesetzes vom 24.09.2008, BGBl I 2008, 1856; gültig vom 1. Januar 2009 bis 31. Dezember 2015) zu § 1 Abs. 3 Wohngeldverordnung (WoGV) weist für Berlin, das der Mietstufe IV zugeordnet wird, für einen Einpersonenhaushalt einen Betrag von 358 Euro aus. Dies ergibt für den Haushalt der Klägerin für das Jahr 2015 einen Angemessenheitswert für die Kaltmiete plus Betriebskosten unter Berücksichtigung des Sicherheitszuschlages von 10% von 358 Euro + 35,80 Euro = 393,80 Euro. Die tatsächliche Bruttokaltmiete lag über diesem Grenzwert der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Dies gilt auch für den Grenzwert, der ab 1. Januar 2016 maßgeblich war: 434,00 + 43,40 0 = 477,40 Euro.
Dieses Ergebnis erscheint unter zwei Gesichtspunkten wenig überzeugend. Zum einen mutet der „Sicherheitszuschlag“ des BSG recht willkürlich an und wurde unter Außerachtlassung der Funktion des Wohngeldes als Referenzmerkmal festgesetzt. Das BSG hat dabei an eine verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung anknüpfen wollen, mit der die unregelmäßigen Anpassungen der Wohngeldgrenzwerte überbrückt werden sollten (Berlit, info also 2017, 195, 196). Schon dieses Anliegen kann der Sicherheitszuschlag nicht realisieren, weil die Mietspiegelwerte über erhebliche Zeiträume nicht dynamisiert wurden. Durch das Gesetz vom 2. Oktober 2015 wurde mit Wirkung ab 1. Januar 2016 der maßgebliche Tabellenwert auf 434,00 Euro erhöht. Er blieb von 2008 (Gesetz vom 24.09.2008 mit Wirkung ab 01.10.2008) bis 2015 also über einen Zeitraum von mehr als sieben Jahren unverändert. Es erfolgte eine Steigerung von 21,2 Prozent. Dass ein Zuschlag von 10 Prozent im Jahr vor dem Gesetzesbeschluss zur Erhöhung unter diesen Umständen keine „Sicherheitsfunktion“ erfüllte, liegt auf der Hand. Auch der Vergleich mit den Kosten der Sozialwohnungen offenbart, dass jedenfalls für Berliner Verhältnisse die Wohngeldwerte, selbst wenn sie um 10 Prozent erhöht werden, teilweise noch nicht einmal eine typische angemessene Wohnung erfassen. Die Grenzwerte des WoGG lagen überwiegend unter den Durchschnittswerten von Sozialwohnungsmieten in Berlin. Die 10-prozentige Erhöhung erfasst dann ebenfalls nicht die Referenzgruppe zielgenau, weil die Spanne der Mieten der Sozialwohnungen nach oben deutlich weiter reicht. Der für 2016 geltende Betrag des 1,1-Fachen des WoGG-Tabellenwerts von 477,40 Euro (s.o.) lag nur wenig oberhalb der Durchschnittsmiete einer WoA mit 439,50 Euro bezogen auf 50 m2 (IBB-Wohnungsmarktbericht 2019, S. 71: durchschnittliche Nettokaltmiete 6,96 Euro/m2 + kalte Betriebskosten von 1,83 Euro/m2 = 8,79 Euro/m2). Die Spanne der tatsächlich gezahlten Ist-Mieten pro Quadratmeter reichte selbst für die WmA nach den Auskünften der IBB noch deutlich höher (s.o.). Eine annähernd durchschnittliche Sozialwohnung kann jedoch nicht bei normativer Betrachtung als unangemessen gelten.
Weil sich feststellen lässt, dass die Bruttokaltmiete der Klägerin jedenfalls nicht unangemessen war, kommt es nicht darauf an, wie hoch im streitbefangenen Zeitraum die Angemessenheitsgrenze war.“