Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 05.11.2019 – 1 BvL 7/16 Verfassungswidrigkeit bestimmter Sanktionen nach dem SGB II

Was hat das Bundesverfassungsgericht entschieden?

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgericht, sind vereinfacht gesprochen Sanktionen i.H.v. 60 Prozent des Regelsatzes und mehr verfassungswidrig und rechtswidrig.

Die derzeitige Praxis der Jobcenter scheint dieses Urteil dahingehend umzusetzen, dass angegriffene Sanktionsbescheide i.H.v. 60 Prozent des Regelsatzes und mehr umgewandelt werden in Sanktionsbescheide i.H.v. 30 Prozent des Regelsatzes.

Ob eine solche Umwandlung zulässig ist oder ob die betroffenen Sanktionsbescheide vollständig aufgehoben werden müssen, ist nach Einschätzung des Unterzeichners derzeit noch nicht geklärt. Es empfiehlt sich daher eine vollständige Aufhebung der betreffenden Sanktion vom Jobcenter zu verlangen.

Nach Auffassung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 26.11.2019 – Az.: L 29 AS 2004/19 B ER – ist eine Umwandlung in eine 30 prozentige Sanktion zumindest dann rechtswidrig, wenn die Umwandlungsentscheidung keinerlei Ermessensausführungen zur außergewöhnlichen Härte oder Verkürzung der Sanktion entsprechend den Vorgaben des BVerfG enthält.

Sanktionsbescheide i.H.v. 30 Prozent des Regelsatzes sind grundsätzlich weiterhin möglich. Allerdings müssen diese teilweise wieder aufgehoben werden, wenn Leistungsempfänger ihre Pflichten nachholen oder dem Jobcenter zusagen, dass Sie zukünftig ihren Pflichten nachkommen werden. Die Sanktion kann (Ermessensentscheidung der Behörde) ab diesem Zeitpunkt sofort aufgehoben werden. Sie darf allerdings maximal noch einen Monat fortdauern.

Zudem können (Ermessensentscheidung der Behörde) 30 Prozent Sanktionen unterbleiben, wenn sie im Einzelfall eine unzumutbare Härte für den Betroffenen bedeutet.

Es spricht daher einiges dafür, dass eine 30 prozentige Sanktion rechtswidrig ist, wenn die Sanktion keinerlei Ermessensausführungen zur außergewöhnlichen Härte oder Verkürzung der Sanktion entsprechend den Vorgaben des BVerfG enthält (Vgl Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 26.11.2019 – Az.: L 29 AS 2004/19 B ER).

Nicht betroffen von dem Urteil sind grundsätzlich Meldeversäumnissanktionen, da diese nur i.H.v. 10 Prozent des Regelsatzes verhängt werden. Etwas anderes kann sich ergeben, wenn durch Kumulation von Sanktionsbescheiden oder Zusammentreffen von Sanktion mit Aufrechnungen insgesamt eine monatliche Minderungshöhe i.H.v. mehr als 30 Prozent erreicht wird.

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/11/ls20191105_1bvl000716.html

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/verfassungsgericht-kippt-die-drastischen-hartz-iv-sanktionen-16469425.html

https://www.zeit.de/news/2019-11/05/bundesverfassungsgericht-mit-urteil-zu-hartz-iv-sanktionen

https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/bundesverfassungsgericht-kippt-hartz-iv-sanktionen-teilweise-a-1294906.html

https://www.tagesschau.de/inland/hartz-vier-urteil-101.html

Das Urteil in seinem Originalwortlaut:

  1. § 31a Absatz 1 Sätze 1, 2 und 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 453) sowie der Bekanntmachung der Neufassung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch vom 13. Mai 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 850), geändert durch das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20. Dezember 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2854), geändert durch das Neunte Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung – sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 26. Juli 2016 (Bundesgesetzblatt I Seite 1824), ist für Fälle des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch in der genannten Fassung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz unvereinbar, soweit die Höhe der Leistungsminderung bei einer erneuten Verletzung einer Pflicht nach § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch die Höhe von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt, soweit eine Sanktion nach § 31a Absatz 1 Sätze 1 bis 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch zwingend zu verhängen ist, auch wenn außergewöhnliche Härten vorliegen, und soweit § 31b Absatz 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch für alle Leistungsminderungen ungeachtet der Erfüllung einer Mitwirkungspflicht oder der Bereitschaft dazu eine starre Dauer von drei Monaten vorgibt.
  1. Bis zum Inkrafttreten der Neuregelung durch den Gesetzgeber sind § 31a Absatz 1 Sätze 1, 2 und 3 und § 31b Absatz 1 Satz 3 in Fällen des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch in der Fassung folgender Übergangsregelungen weiter anwendbar:
  1. § 31a Absatz 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch ist in den Fällen des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Leistungsminderung wegen einer Pflichtverletzung nach § 31 Absatz 1 SGB II nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Insbesondere kann von einer Minderung abgesehen werden, wenn nach Einschätzung der Behörde die Zwecke des Gesetzes nur erreicht werden können, indem eine Sanktion unterbleibt.
  1. § 31a Absatz 1 Sätze 2 und 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch sind in den Fällen des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzungen eine Minderung der Regelbedarfsleistungen nicht über 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen darf. Von einer Leistungsminderung kann abgesehen werden, wenn dies im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Insbesondere kann von einer Minderung abgesehen werden, wenn nach Einschätzung der Behörde die Zwecke des Gesetzes nur erreicht werden können, indem eine Sanktion unterbleibt.
  1. § 31b Absatz 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch ist in den Fällen des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch mit folgender Maßgabe anzuwenden: Wird die Mitwirkungspflicht erfüllt oder erklären sich Leistungsberechtigte nachträglich ernsthaft und nachhaltig bereit, ihren Pflichten nachzukommen, kann die zuständige Behörde unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ab diesem Zeitpunkt die Leistung wieder in vollem Umfang erbringen. Die Minderung darf ab diesem Zeitpunkt nicht länger als einen Monat andauern.

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