LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. Februar 2017 – L 32 AS 1626/13, Eine wirksame Eingliederungsvereinbarung erfordert ein schlüssiges Eingliederungskonzept

Allerdings durfte der Beklagte gleichwohl die Minderung des Arbeitslosengeldes II nicht auf die Verweigerung des Klägers zur Aufnahme der in der Eingliederungsvereinbarung vereinbarten Maßnahme stützen. Es liegt keine Pflichtverletzung nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe c SGB II a. F. vor, denn diese Eingliederungsvereinbarung ist insgesamt nichtig. Es ist nicht ersichtlich, dass ihr ein schlüssiges Eingliederungskonzept zugrunde liegt.

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Die Verletzung der Pflicht, eine in der Eingliederungsvereinbarung vereinbarte Maßnahme aufzunehmen, die ihrer Rechtsqualität nach eine Obliegenheit ist, kann die Rechtsfolge einer Sanktion nur nach sich ziehen, wenn sich im Rahmen der Prüfung einer angefochtenen Sanktionsentscheidung bei einer inzidenten Prüfung der in der Eingliederungsvereinbarung bestimmten Obliegenheit erweist, dass diese Grundlage einer Sanktion bei ihrer Verletzung sein kann. Der Maßstab für die Prüfung einer in einer Eingliederungsvereinbarung bestimmten Obliegenheit folgt aus § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i. V. m. dem Recht der öffentlich-rechtlichen Verträge nach den §§ 53 ff. SGB X, denn Eingliederungsvereinbarungen sind ihrer Rechtsqualität nach öffentlich-rechtliche Verträge in der Form des subordinationsrechtlichen Austauschvertrages nach § 53 Abs. 1 Satz 2, § 55 SGB X. Danach ist eine Eingliederungsvereinbarung wirksam, wenn sie nicht nichtig ist. Sie ist über die Prüfung, ob Nichtigkeitsgründe vorliegen, hinaus nicht auch darauf hin zu prüfen, ob sie rechtswidrig ist (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 14 AS 30/15 R, Rdnrn. 15 und 16, zitiert nach juris).

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Im Hinblick auf ihren Charakter als öffentlich-rechtlicher Vertrag in der Form des subordinationsrechtlichen Austauschvertrages muss eine Eingliederungsvereinbarung ein ausgewogenes Verhältnis der wechselseitigen Verpflichtungen des Leistungsberechtigten und des Leistungsträgers aufweisen, denn fehlt es daran, stehen also die sanktionsbewehrten Obliegenheiten des Leistungsberechtigten in einem unangemessenen Verhältnis zu den vom Leistungsträger übernommenen Leistungsverpflichtungen, liegt insoweit eine unzulässige Gegenleistung im Sinne des § 55 SGB X vor, die wegen des so genannten Kopplungsverbotes nach § 58 Abs. 2 Nr. 4 SGB X zur Nichtigkeit der Eingliederungsvereinbarung nach § 58 Abs. 3 SGB X führt. Für strenge Anforderungen an das Erfordernis eines ausgewogenen Verhältnisses der wechselseitigen Verpflichtungen spricht, dass die Verletzung der vereinbarten Obliegenheit in der Eingliederungsvereinbarung sanktionsbewehrt ist und dass die Ausgewogenheit gerade wesentliches Element des gesetzgeberischen Regelungskonzepts (des Fordern und Förderns) ist (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 14 AS 30/15 R, Rdnrn. 21, 22).

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§ 15 Abs. 1 Sätze 2 bis 5 SGB II a. F. regelte: Die Eingliederungsvereinbarung soll insbesondere bestimmen, 1. welche Leistungen der Erwerbsfähige zur Eingliederung in Arbeit erhält, 2. welche Bemühungen der erwerbsfähige Hilfebedürftige in welcher Häufigkeit zur Eingliederung in Arbeit mindestens unternehmen muss und in welcher Form er die Bemühungen nachzuweisen hat, 3. welche Leistungen Dritter, insbesondere Träger anderer Sozialleistungen, der erwerbsfähige Hilfebedürftige zu beantragen hat. Die Eingliederungsvereinbarung soll für sechs Monate geschlossen werden. Danach soll eine neue Eingliederungsvereinbarung abgeschlossen werden. Bei jeder folgenden Eingliederungsvereinbarung sind die bisher gewonnenen Erfahrungen zu berücksichtigen.

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Nach dem mit § 15 Abs. 1 Sätze 2 bis 5 SGB II a. F. verfolgten gesetzlichen Regelungskonzept konkretisiert eine Eingliederungsvereinbarung das Sozialrechtsverhältnis und enthält „verbindliche Aussagen“ zum Fördern und Fordern einschließlich der abgesprochenen Leistungen zur Eingliederung in Arbeit; durch die Befristung von Eingliederungsvereinbarungen soll „intensive Betreuung“ und zeitnahe „kritische Überprüfung“ der Eignung der für die berufliche Eingliederung eingesetzten Mittel sichergestellt werden. Damit dienen Eingliederungsvereinbarungen dem vom Gesetzgeber verfolgten Ziel einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik im Sinne einer „maßgeschneiderten“ Ausrichtung der Eingliederungsleistungen auf den Leistungsberechtigten, bei der aufbauend auf die „konkrete Bedarfslage“ ein „individuelles Angebot“ unter aktiver Mitwirkung des Leistungsberechtigten geplant und gesteuert wird (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 14 AS 30/15 R, Rdnr. 18, unter Hinweis auf Bundestag-Drucksache 15/1516, S. 54 und 44).

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Die Regelung des § 15 Abs. 1 Sätze 2 bis 5 SGB II a. F. knüpft hierbei an § 3 Abs. 1 SGB II an.

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Die Eingliederungsvereinbarung muss daher auf den Leistungsgrundsätzen des § 3 Abs. 1 Satz 2 SGB II beruhen, wonach bei den Leistungen zur Eingliederung in Arbeit 1. die Eignung, 2. die individuelle Lebenssituation, insbesondere die familiäre Situation, 3. die voraussichtliche Dauer der Hilfebedürftigkeit und 4. die Dauerhaftigkeit der Eingliederung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten zu berücksichtigen sind. Insbesondere die Eignung und die individuelle Lebenssituation des Leistungsberechtigten müssen berücksichtigt werden. Die Eingliederungsvereinbarung hat individuelle, konkrete und verbindliche Leistungsangebote des Leistungsträgers zur Eingliederung in Arbeit zu enthalten. Ihr muss zu entnehmen sein, ob und inwieweit eine Eignungsanalyse unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Leistungsberechtigten durchgeführt und die bisher gewonnenen Erfahrungen bei der (jeweils weiteren) Eingliederungsvereinbarung berücksichtigt wurden (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 14 AS 30/15 R, Rdnr. 19).

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Zur Verwirklichung dessen ist ein schlüssiges Eingliederungskonzept erforderlich, denn, um eine schnelle und passgenaue Vermittlung der Betroffenen in Arbeit und damit eine schnellstmögliche Überwindung der Hilfebedürftigkeit zu erreichen, bedarf es einer „maßgeschneiderten Ausrichtung der Eingliederungsleistungen“ auf den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen. Kernelement dieser neuen Leistung ist nach der Gesetzesbegründung deshalb das Fallmanagement. Im Rahmen des Fallmanagements wird die konkrete Bedarfslage des Betroffenen erhoben; darauf aufbauend wird dann ein individuelles Angebot unter aktiver Mitwirkung des Hilfebedürftigen geplant und gesteuert (Bundestag-Drucksache 15/1516, S. 44). Dies setzt notwendigerweise ein individuelles Eingliederungskonzept voraus (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 14 AS 42/15 R, Rdnr. 14, zitiert nach juris), das in sich plausibel sein muss, da nur dadurch dem gesetzgeberischen Anliegen hinreichend Rechnung getragen werden kann.

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Ausgehend davon ist die Eingliederungsvereinbarung vom 30. September 2010 insgesamt nichtig. Es ist nicht ersichtlich, dass ihr ein schlüssiges Eingliederungskonzept zugrunde liegt, so dass sie dem Kläger Verpflichtungen auferlegt, ohne ihm eine angemessene Gegenleistung zu verschaffen.

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Der Eingliederungsvereinbarung selbst ist schon nicht zu entnehmen, ob und inwieweit eine Eignungsanalyse unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Klägers durchgeführt wurde und die bisher gewonnenen Erfahrungen bei dieser Eingliederungsvereinbarung berücksichtigt wurden. Die Verwaltungsakte des Beklagten enthält ebenfalls keine Hinweise darauf, dass solches erfolgt wäre.

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Die Eingliederungsvereinbarung vom 30. September 2010 und der Vermerk vom 30. September 2010 unter Berücksichtigung der dazu abgegebenen Erklärung des Zeugen L lassen vielmehr die Schlussfolgerung zu, dass es an einem schlüssigen Eingliederungskonzept mangelte, denn die angebotenen und erwogenen Maßnahmen zeigen eher ein planloses Handeln des Beklagten.

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Die Eingliederungsvereinbarung benennt als Ziele die Integration in Arbeit und die Maßnahme intensive Vermittlung. Die Maßnahme intensive Vermittlung soll nach dem Inhalt der Eingliederungsvereinbarung die berufliche Eingliederung durch eine Heranführung an den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt unterstützen. Nach dem dazu dem Kläger übergebenen Vordruck F.2.1 Informationsblatt dient diese Maßnahme nach ihrer Kurzbeschreibung der „Erstellung moderner Bewerbungsunterlagen“. Im Rahmen dieser Maßnahme werden Workshop-Angebote zu den Themen „aktuelle Informationen zum Arbeitsmarkt, Bewerbungsstrategien, Bewerbung per Mail und per Telefon, EDV-gestützte Eigenrecherche, Vorbereitung auf Assessmentcenter und Arbeitszeugnisse richtig lesen“ gemacht. Dies deutet darauf hin, dass der Beklagte bei Abschluss der Eingliederungsvereinbarung der Auffassung gewesen ist, dass mit den beim Kläger vorhandenen Kenntnissen und Fähigkeiten eine erfolgversprechende Bewerbung auf Arbeitsplätze nicht erfolgen kann, es also erst einer „Heranführung an den Arbeitsmarkt“ bedarf, die mittels der Maßnahme intensive Vermittlung erreicht werden soll. Unter dieser Annahme bleibt dann allerdings unverständlich, weswegen der Kläger nach der Eingliederungsvereinbarung mindestens drei monatliche Bewerbungsbemühungen um sozialversicherungspflichtige und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu unternehmen hatte, denn solche Bewerbungsbemühungen konnten mit nur unzureichend bzw. nicht vorhandenen Kenntnissen und Fähigkeiten von vornherein kaum oder nicht erfolgversprechend sein. Vom Kläger wurde insoweit etwas verlangt, was er erst nach Durchführung der angebotenen Maßnahme intensive Vermittlung zu leisten in der Lage wäre. Sollte demgegenüber der Beklagte der Ansicht gewesen sein, solche Bewerbungsbemühungen seien auch mit den beim Kläger seinerzeit (schon bzw. noch) vorhandenen Kenntnissen und Fähigkeiten über Bewerbungen erfolgreich, erschlösse sich nicht, warum er dann an der angebotenen Maßnahme intensive Vermittlung hätte teilnehmen sollen. Ihm wäre für diesen Fall eine überflüssige Maßnahme angeboten worden, zu deren Teilnahme er folglich nicht hätte verpflichtet sein können.

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Aus dem Aktenvermerk vom 30. September 2010 geht darüber hinaus hervor: „AGH scheint sinnvoll.“ Wie der Zeuge L bei seiner Vernehmung bekundet hat, steht „AGH“ für Arbeitsgelegenheit.

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Nach § 16d Satz 1 SGB II (in der Fassung des Gesetzes vom 21. Dezember 2008, BGBl I 2008, 2917) sollen Arbeitsgelegenheiten für erwerbsfähige Hilfebedürftige geschaffen werden, die keine Arbeit finden können.

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Die Funktion der Arbeitsgelegenheiten als Eingliederungsleistung liegt in erster Linie darin, erwerbsfähige Hilfebedürftige, die bereits über einen längeren Zeitraum keine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mehr ausgeübt haben, wieder an eine regelmäßige Arbeitstätigkeit zu gewöhnen und zu erproben, ob der Leistungsempfänger den sich daraus ergebenden Belastungen gewachsen ist (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2008 – B 4 AS 60/07 R, Rdnr. 23, zitiert nach juris, abgedruckt in BSGE 102, 201 = SozR 4-4200 § 16 Nr. 4). Wenn nach dem Aktenvermerk vom 30. September 2010 auch eine Arbeitsgelegenheit als sinnvoll erschien, bedeutet dies, dass der Beklagte an der Beschäftigungsfähigkeit des Klägers Zweifel hatte. Bei einer nicht gegebenen Beschäftigungsfähigkeit machen jedoch weder die Teilnahme an der Maßnahme intensiver Vermittlung noch Bewerbungsbemühungen um sozialversicherungspflichtige und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse Sinn. Der Kläger wäre zwar nach der Teilnahme an der Maßnahme intensive Vermittlung in der Lage gewesen, moderne Bewerbungsunterlagen zu erstellen. Er hätte auch infolge von Bewerbungsbemühungen um einen Arbeitsplatz von einem Arbeitgeber in Betracht gezogen werden können. Beides (die Teilnahme an der Maßnahme intensiver Vermittlung bzw. Bewerbungsbemühungen um sozialversicherungspflichtige und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse) wäre jedoch nicht zielführend gewesen, wenn wegen fehlender Beschäftigungsfähigkeit eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht hätte durchgehalten werden können, der Kläger also den Arbeitsplatz deswegen nicht erhalten hätte, weil schon absehbar war, dass er den dortigen Belastungen nicht gewachsen ist, oder der Kläger nach Aufnahme einer Beschäftigung diesen Arbeitsplatz deswegen wieder verloren hätte, weil sich herausgestellt hätte, ihm nicht gewachsen zu sein.

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Stand mithin nach dem Aktenvermerk vom 30. September 2010 seinerzeit die Beschäftigungsfähigkeit des Klägers in Zweifel (nach dem Inhalt dieses Aktenvermerks lag die letzte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im Jahr 2003), wäre es vornehmlich geboten gewesen aufzuklären, ob der Kläger beschäftigungsfähig ist oder nicht. Eine Eingliederungsvereinbarung, die ungeachtet dessen den Kläger verpflichtet, an einer Maßnahme intensive Vermittlung teilzunehmen und ihm aufgibt, Bewerbungsbemühungen um sozialversicherungspflichtige und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu unternehmen, beruht mithin nicht auf einem schlüssigen Eingliederungskonzept. Sie ist vielmehr Ausdruck dessen, irgendwelche Maßnahmen, die nach dem Gesetz als Maßnahmen zur Integration in Arbeit in Betracht kommen, mit dem Ziel auf einen möglichen Erfolg beim Kläger auszuprobieren. Wie die Ausführungen des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vermuten lassen, mag zwar eine solche Handlungsweise einer täglichen Praxis des Beklagten entsprechen. Eine solche Handlungsweise widerspricht jedoch ersichtlich dem gesetzlichen Anliegen nach einer maßgeschneiderten Ausrichtung der Eingliederungsleistungen auf den jeweiligen Leistungsberechtigten.

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Nach alledem entbehrt die Eingliederungsvereinbarung vom 30. September 2010 eines schlüssigen Eingliederungskonzepts, so dass sie dem Kläger Verpflichtungen auferlegt, ohne ihm eine angemessene Gegenleistung zu verschaffen. Sie ist mithin insgesamt nichtig, so dass darauf eine Minderung des Arbeitslosengeldes II nicht gestützt werden kann.

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Für eine solche Minderung des Arbeitslosengeldes II kommt als Rechtsgrundlage ebenfalls nicht § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II a. F. in Betracht, wonach das Arbeitslosengeld II in einer ersten Stufe um 30 v. H. der für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung abgesenkt wird, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige trotz Belehrung über die Rechtsfolgen eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit abgebrochen oder Anlass für den Abbruch gegeben hat.

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Zum einen liegt schon kein Abbruch einer solchen Maßnahme vor. Zum anderen fehlt es an einer entsprechenden Belehrung der Rechtsfolgen.
(Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. Februar 2017 – L 32 AS 1626/13 –, Rn. 58, juris)

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