Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 05.11.2019 – 1 BvL 7/16 Verfassungswidrigkeit bestimmter Sanktionen nach dem SGB II

Rechtsanwalt Till Win
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Was hat das Bundesverfassungsgericht entschieden?

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgericht, sind vereinfacht gesprochen Sanktionen i.H.v. über 30 Prozent des Regelsatzes per se verfassungswidrig und rechtswidrig. Auch für Sanktionen von bis zu 30 Prozent des Regelsatzes hat das BVerfG die Anforderungen verschärft.

Bestandskräftige Sanktionsbescheide i.H.v. mehr als 30 Prozent des Regelsatzes können unter Berufung auf das Urteil des BVerfG voraussichtlich nicht erfolgreich mit Überprüfungsanträgen gem. § 44 SGB X überprüft werden. Grund dafür ist die sehr ärgerliche Regelung gem. § 40 Abs. 3 SGB II. diese lautet:

(3) Liegen die in § 44 Absatz 1 Satz 1 des Zehnten Buches genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vor, weil dieser auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Verwaltungsaktes

  1. durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist oder

2. in ständiger Rechtsprechung anders als durch den für die jeweilige Leistungsart zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgelegt worden ist,

so ist der Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden ist, nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen. 

Die derzeitige Praxis der Jobcenter scheint das Urteil des BVerfG dahingehend umzusetzen, dass angegriffene Sanktionsbescheide i.H.v. über 30 Prozent des Regelsatzes umgewandelt werden in Sanktionsbescheide i.H.v. 30 Prozent des Regelsatzes.

Ob eine solche Umwandlung zulässig ist oder ob die betroffenen Sanktionsbescheide vollständig aufgehoben werden müssen, ist nach Einschätzung des Unterzeichners derzeit noch nicht geklärt. Es empfiehlt sich daher eine vollständige Aufhebung der betreffenden Sanktion vom Jobcenter zu verlangen.

Nach Auffassung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 26.11.2019 – Az.: L 29 AS 2004/19 B ER – ist eine Umwandlung in eine 30 prozentige Sanktion zumindest dann rechtswidrig, wenn die Umwandlungsentscheidung keinerlei Ermessensausführungen zur außergewöhnlichen Härte oder Verkürzung der Sanktion entsprechend den Vorgaben des BVerfG enthält.

Sanktionsbescheide i.H.v. 30 Prozent des Regelsatzes sind grundsätzlich weiterhin möglich. Allerdings müssen diese teilweise wieder aufgehoben werden, wenn Leistungsempfänger ihre Pflichten nachholen oder dem Jobcenter zusagen, dass Sie zukünftig ihren Pflichten nachkommen werden. Die Sanktion kann (Ermessensentscheidung der Behörde) ab diesem Zeitpunkt sofort aufgehoben werden. Sie darf allerdings maximal noch einen Monat fortdauern.

Zudem können (Ermessensentscheidung der Behörde) 30 Prozent Sanktionen unterbleiben, wenn sie im Einzelfall eine unzumutbare Härte für den Betroffenen bedeutet.

Es spricht daher einiges dafür, dass eine 30 prozentige Sanktion rechtswidrig ist, wenn die Sanktion keinerlei Ermessensausführungen zur außergewöhnlichen Härte oder Verkürzung der Sanktion entsprechend den Vorgaben des BVerfG enthält (Vgl Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 26.11.2019 – Az.: L 29 AS 2004/19 B ER).

Nicht direkt betroffen von dem Urteil sind grundsätzlich Meldeversäumnissanktionen, da diese nur i.H.v. 10 Prozent des Regelsatzes verhängt werden. Etwas anderes kann sich ergeben, wenn durch Kumulation von Sanktionsbescheiden oder Zusammentreffen von Sanktion mit Aufrechnungen insgesamt eine monatliche Minderungshöhe i.H.v. mehr als 30 Prozent erreicht wird. Zudem müssen die Rechtsfolgebelehrungen für Meldeversäumnissanktionen die Anforderungen des BVerfG zur Vermeidung von Härtefällen und zur Verkürzung der Sanktion berücksichtigen.

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/11/ls20191105_1bvl000716.html

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/verfassungsgericht-kippt-die-drastischen-hartz-iv-sanktionen-16469425.html

https://www.zeit.de/news/2019-11/05/bundesverfassungsgericht-mit-urteil-zu-hartz-iv-sanktionen

https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/bundesverfassungsgericht-kippt-hartz-iv-sanktionen-teilweise-a-1294906.html

https://www.tagesschau.de/inland/hartz-vier-urteil-101.html

Die Urteilsformel in ihrem Originalwortlaut:

  1. § 31a Absatz 1 Sätze 1, 2 und 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 453) sowie der Bekanntmachung der Neufassung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch vom 13. Mai 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 850), geändert durch das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20. Dezember 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2854), geändert durch das Neunte Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung – sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 26. Juli 2016 (Bundesgesetzblatt I Seite 1824), ist für Fälle des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch in der genannten Fassung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz unvereinbar, soweit die Höhe der Leistungsminderung bei einer erneuten Verletzung einer Pflicht nach § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch die Höhe von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt, soweit eine Sanktion nach § 31a Absatz 1 Sätze 1 bis 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch zwingend zu verhängen ist, auch wenn außergewöhnliche Härten vorliegen, und soweit § 31b Absatz 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch für alle Leistungsminderungen ungeachtet der Erfüllung einer Mitwirkungspflicht oder der Bereitschaft dazu eine starre Dauer von drei Monaten vorgibt.
  2. Bis zum Inkrafttreten der Neuregelung durch den Gesetzgeber sind § 31a Absatz 1 Sätze 1, 2 und 3 und § 31b Absatz 1 Satz 3 in Fällen des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch in der Fassung folgender Übergangsregelungen weiter anwendbar:
  3. § 31a Absatz 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch ist in den Fällen des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Leistungsminderung wegen einer Pflichtverletzung nach § 31 Absatz 1 SGB II nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Insbesondere kann von einer Minderung abgesehen werden, wenn nach Einschätzung der Behörde die Zwecke des Gesetzes nur erreicht werden können, indem eine Sanktion unterbleibt.
  4. § 31a Absatz 1 Sätze 2 und 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch sind in den Fällen des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzungen eine Minderung der Regelbedarfsleistungen nicht über 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen darf. Von einer Leistungsminderung kann abgesehen werden, wenn dies im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Insbesondere kann von einer Minderung abgesehen werden, wenn nach Einschätzung der Behörde die Zwecke des Gesetzes nur erreicht werden können, indem eine Sanktion unterbleibt.
  5. § 31b Absatz 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch ist in den Fällen des § 31 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch mit folgender Maßgabe anzuwenden: Wird die Mitwirkungspflicht erfüllt oder erklären sich Leistungsberechtigte nachträglich ernsthaft und nachhaltig bereit, ihren Pflichten nachzukommen, kann die zuständige Behörde unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ab diesem Zeitpunkt die Leistung wieder in vollem Umfang erbringen. Die Minderung darf ab diesem Zeitpunkt nicht länger als einen Monat andauern.

Aufgrund des Urteils des BVerfG vom 05.11.2019 haben bereits mehrere Sozialgerichte die Anforderungen, die an die Rechtsfolgenbelehrung von Sanktionen zu stellen sind erfreulicherweise verschärft:

Das Sozialgericht Hamburg hat mit Urteil vom 24. September 2020 – S 58 AS 369/17 – insoweit wie folgt entschieden:

Die Rechtsfolgenbelehrung vom 19.08.2016 wird diesen Anforderungen nicht gerecht, weil sie mit den grundgesetzlichen Vorgaben nach Maßgabe der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung vom 05.11.2019 – 1 BvL 7/16 – [hierzu a)] nicht in Einklang zu bringen ist [hierzu b)]. Letztere sind auch bei nicht bestandskräftigen Bescheiden über Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, die vor der Urteilsverkündung am 05.11.2019 festgestellt worden sind, zu berücksichtigen [hierzu c)].

Eine Leistungsminderung nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II kann nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nur wahren, wenn sie nicht darauf ausgerichtet ist, repressiv Fehlverhalten zu ahnden, sondern darauf, dass Mitwirkungspflichten erfüllt werden, die gerade dazu dienen, die existenzielle Bedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden. Es gelten danach strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit, weil die Minderung existenzsichernder Leistungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten in einem unübersehbaren Spannungsverhältnis zur Existenzsicherungspflicht des Staates aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG steht. Denn der Gesetzgeber enthält vor, was er nach Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG zu gewährleisten hat. Er belastet außerordentlich, weil er dasjenige suspendiert, was Bedürftigen grundrechtlich gesichert zusteht.

Leistungsminderungen sind daher nur verhältnismäßig und wahren die Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG, wenn es den Betroffenen tatsächlich möglich ist, die Minderung staatlicher Leistungen durch eigenes zumutbares Verhalten abzuwenden und die existenzsichernde Leistung auch nach einer Minderung wiederzuerlangen (BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, BVerfGE 152, 68-151, Rn. 130 – 133). Zumutbar ist eine Leistungsminderung in Höhe von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs daher nur, wenn in einem Fall außergewöhnlicher Härte von der Sanktion abgesehen werden kann und die Minderung nicht unabhängig von der Mitwirkung der Betroffenen starr andauert (BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, BVerfGE 152, 68-151, Rn. 159).

b) Die Rechtsfolgenbelehrung vom 19.08.2016 wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Sie erweist sich insoweit als unvollständig und unrichtig i.S. der vorstehenden bundessozialgerichtlichen Rechtsprechung.

Nach der Rechtsfolgenbelehrung vom 19.08.2016 beträgt der Sanktionszeitraum zunächst in jedem Fall drei Monate. Die Rechtsfolgenbelehrung erweist sich damit als unvollständig, weil auf die Möglichkeit, die Minderung durch eigenes zumutbares Verhalten abzuwenden und die existenzsichernde Leistung wiederzuerlangen, nicht hingewiesen worden ist. Die Minderung dauert danach unabhängig von der Mitwirkung des Betroffenen vielmehr starr an. Die Rechtsfolgenbelehrung erweist sich daher auch als unrichtig, weil sie den grundgesetzlichen Anforderungen nach Maßgabe der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung nicht entsprochen hat. Sie konnte auch keine dahingehende Steuerungsfunktion entfalten, so dass es widersprüchlich wäre, der Klägerin im laufenden Klageverfahren rückblickend entgegenzuhalten, dass sie es unterlassen habe, die Minderung durch ihr zumutbares Verhalten abzuwenden.

(2) Aus der Rechtsfolgenbelehrung ergibt sich auch nicht, dass im Falle einer außergewöhnlichen Härte von der Minderung hätte abgesehen werden können. Die Rechtsfolgenbelehrung vom 19.08.2016 ist auch aus diesem Grund unvollständig und damit unrichtig.

Das Sozialgericht Berlin hat mit Gerichtsbescheid vom 2. März 2020 – S 37 AS 3585/18 wie folgt entschieden:

„Die zulässige Klage ist auch begründet. Die Sanktion ist rechtswidrig.

Zwar hat das BVerfG am 5.11.2019 nicht über Sanktionen nach § 32 SGB II entschieden; es gilt daher der strenge Wortlaut des Gesetzes.

Allerdings müssen die Gerichte die Sanktionsnormen verfassungskonform auslegen. Aus diesem Grund muss im Lichte des BVerfG-Urteils der Entscheidung des SG Leipzig vom 9.9.2016 – S 22 AS 2098/16 ER zugestimmt werden, dass die Rechtsfolgenbelehrung in einer Aufforderung, sich an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Tageszeit zu melden – wie es hier geschehen ist – zumindest dann unvollständig ist, wenn der Hinweis fehlt, dass der Meldepflicht auch nachgekommen werde, wenn sich der Betreffende zu einer anderen Zeit am selben Tag meldet und der Zweck der Meldung noch erreicht wird.

Das wäre hier wegen des Meldezwecks, die aktuelle berufliche Situation zu besprechen, kein Problem gewesen. Ob der Kläger dann zum Termin erschienen wäre, ist nach seinem Verhalten in Bezug auf vorangegangene und nachfolgende Meldetermine nicht zu erwarten, aber für die rechtliche Beurteilung nicht relevant. Es kommt darauf an, dass die Rechtsfolgenbelehrung vollständig ist.

Bereits im Nichtannahmebeschluss des BVerfG auf die erste Vorlage des SG Gotha wurde auf die hohe Bedeutung einer richtigen und vollständigen Rechtsfolgenbelehrung abgestellt.

Die dem SG Leipzig widerstreitende Instanz-Rechtsprechung (z. B. SG München) kann nach dem Urteil des BVerfG vom 5.11.2019 nicht mehr überzeugen. Der Hinweis in § 309 Abs. 3 Satz 2 SGB III bietet die Chance einer Bekundung zu rechtstreuem Verhalten, was nach den Maßstäben des BVerfG-Urteils die Festsetzung einer Sanktion ausschließt.

Der Hinweis ist daher von zentraler Bedeutung für Altfälle, in denen noch nicht, wie nach den fachlichen Hinweisen ab 3.12.2019, auf die Verkürzung der Sanktionsdauer bei Erklärung zur Verhaltensumkehr zwingend aufmerksam zu machen ist.

Ob Umstände vorlagen, die den Beklagten verpflichtet hätten, Ermessen i.S. des BSG-Urteils vom 15.04.2015 auszuüben, kann somit dahingestellt bleiben.“

Ebenso hat auch das Sozialgericht Berlin mit Gerichtsbescheid vom 20.11.2020 – S 167 AS 11070/18 -entschieden.